Frederic W. Nielsen- Ein reichsdeutscher Exilant bezeugt die Not der Sudetendeutschen

Mittwoch,20.August2014 von

Während der Hitler-Zeit suchten viele deutsche Kommunisten und Sozialisten Asyl in der CSR. Betreut und unterstützt wurden sie vornehmlich von ihren sudetendeutschen Genossen, was nach dem Kriege aber als „tschechische“ Hilfe galt, vermutlich auch mit stiller Einwilligung der Exilanten, die von den Sudetendeutschen wegen ihrer Henlein-Nähe wenig hielten. Das erklärt wahrscheinlich auch Ollenhauers Zurückhaltung gegenüber den Vertriebenen nach 1945, da auch er mit seinem Partei-vorstand für mehrere Jahre im CSR-Exil weilte.
Zu den deutschen Asylanten in der CSR gehörte auch der 1903 in Stuttgart geborene Frederic Walter Nielsen. Sein eigentlicher Name lautete Friedrich Wallensteiner. Von Jugend an wollte er zum Theater. Nach einigen Irrungen nahm er 1928 in Berlin das Schauspielstudium auf. Bevor er aber in seinem Beruf richtig Fuß fassen konnte, emigrierte er im Herbst 1933 in die CSR. Die tschechische Sprache eignete er sich schnell und zielstrebig an. Nach der Errichtung des Protektorats musste Nielsen erneut fliehen. Sein Weg führte ihn über Danzig nach England.
In Prag veranstaltete Nielsen schon bald öffentliche Lesungen. Kurz vor Weih-nachten 1934 war es ein „deutscher Abend“ mit jahreszeitgemäßen Texten. Vor der Pause riss er das Publikum aber durch eine Reportage aus einem sudetendeutschen Hungergebiet jäh aus der Beschau-lichkeit. Dem Vortrag folgte ein Spendenaufruf. Nielsens Motiv war durchaus politisch, denn unter den Notleidenden befanden sich auch viele sudetendeutsche Sozialdemokraten, deren Abdriften zu Henlein er verhindern wollte. Das dürfte auch der Grund gewesen sein, dass die tschechische Zensur nicht eingriff, wie Nielsen eigens betonte.
Sein Text lautete:
„In der Reihe unserer Kreuz- und Querreportagen aus den Hungergebieten Europas bringen wir heute einen Bericht über Ermittlungen in den Bezirken Neudek und Graslitz, in Rothau und Heinrichsgrün, in Schindlwald, Schönlind und Vogldorf.
In Rothau sind von den insgesamt 1336 männlichen Erwerbsfähigen nur noch 67 Personen beschäftigt, die übrigen 1269 schon seit der Verlegung der Eisenwerke (ins Landesinnere, F.V.) im Januar 1931 arbeitslos, darunter 112 Jugendliche, die – teilweise schon seit drei Jahren schulentlassen – bis heute keinen Lehrherrn finden konnten. – Die Zahl der Kinder beträgt 863; alle 863 befinden sich in sehr schlechtem Er-nährungszustand. Mindestens 500 dieser Kinder besitzen kein eigenes Bett, sondern schlafen zu zweit und zu dritt auf einem Lager. – Allen, Erwachsenen und Kindern, fehlt Kleidung, Wäsche, Schuhzeug. An Neuanschaffung ist nicht zu denken. – Etwa 500 der ausgesteuerten Arbeitslosen sind ganz auf die staatliche Lebens-mittelaktion angewiesen. Diese besteht aus wöchentlich 20 Kronen für Verheiratete und 10 Kronen für Ledige. – Wir haben einen Fall getroffen, da eine 77 jährige Witwe mit einer Monatsrente von 146 Kronen nicht nur sich selbst, sondern auch noch drei weitere arbeitslose Angehörige erhalten musste. Kein Wunder, dass es in vielen Familien nur einmal wöchentlich ein warmes Mittagessen gibt und dass die Kost der übrigen Tage aus Kaffeebrühe, Brot und Kartoffeln besteht.
In Heinrichsgrün sind 90 % der Bevölkerung erwerbslos, 90 % der Kinder unterernährt und 20 % ständig mit oft tödlich endenden Infektionskrankheiten behaftet. – 20 % der Kinder kommen ohne Frühstück zur Schule, so dass Ohnmachtsanfälle der Kleinen keine Seltenheit sind. – Fast alle Schul-pflichtigen erscheinen im Winter infolge des katastrophalen Schuhmangels mit nassen Füßen, oft auch
mit übergroßen Schuhen, die Vater oder Mutter gehören. – Die Ernährung einer Familie sieht meist so aus: Frühstück: Kornkaffee mit einem Stückchen Brot, oft nur Kartoffeln; Mittagessen: dünne
Kartoffelsuppe mit etwas Brot; Abendessen:  Wassersuppe mit Kartoffeln. – In einzelnen Familien findet man sonntags als besonderes Festessen ein halbes Pfund Rind-, Pferde- oder Hundefleisch.
Bei Erhebungen in den Gemeinden Graslitz und Neudek wurden in 31 Familien folgende Ergebnisse ermittelt: 100 % waren arbeitslos, teilweise schon seit fünf Jahren; 87% erhalten nichts oder höch-stens bis zu 37 Kronen wöchentlich; 77 % kochen, wohnen und schlafen oft fünf bis acht Personen in einem Raum; 84% haben ein gemeinsames Nachtlager, bis zu 5 (!) Personen in einem Bett; 52% haben zum Frühstück schwarzen Kaffee und trockenes Brot; 30 % nicht einmal das immer; 54 % haben kein regelmäßiges Mittagessen, oft nur zwei- bis viermal wöchentlich. – Die Kost besteht aus Suppe, Kartoffeln, Kaffee und trockenem Brot. – Für mühevollste Heimarbeit, die aus Spitzenklöppeln und Filetnäherei besteht, werden bei 14 bis 17 stündiger Arbeitszeit 2 Kronen täglich verdient, bei ausdauernder Arbeit und besonderer Geschicklichkeit 3 bis 4 Kronen. – Dabei ist diese Heimarbeit lediglich saisonbedingt!
Zum Abschluss des heutigen Berichts geben wir Ihnen noch die Ermittlungen in vier Gemeindeschulen mit insgesamt 662 Schulkindern bekannt: 90 % der Väter sind arbeitslos; 75 % der Kinder stark unterernährt und mangelhaft gekleidet; 118 Kinder erhalten überhaupt kein Frühstück; 306 Kinder sind ohne Frühstücksbrot und 65 Kinder müssen auf ein Mittagessen verzichten.“
Den Text druckte Milada Kourimska auf S. 167 f. ihrer Frederic-W.-Nielsen-Monographie (Titel: „Es begann in Prag“, Freiburg 1984). Er ergänzt die Berichte, die sonst nur sudetendeutsche Zeitungen, das kommunistische Blatt „Rote Fahne“ oder das Ausland (vor allem Schweden) druckten. Wir betrachten ihn als weiteren Beleg dafür, dass das Sich-Aufbäumen der Sudetendeutschen 1938 über-wiegend als Hungerrevolte, weitgehend frei von ideologischem Beiwerk, aufgefasst werden muss. Milada Kourimska berichtet auch (S. 99), dass Nielsen mit dem tschechoslowakischen Verteidigungsministerium zusammengearbeitet hat. Das hätte 1939 fast zur Ablehnung seines Asylantrages in England geführt, denn die britischen Behörden versagten zunächst allen Asylsuchenden die Einreise, wenn sie „aktive Gegner des Hitlersystems“ gewesen waren!!! Als solche galten auch Leute, die mit der csl. Regierung kooperiert hatten. Im Übrigen scheinen auch Emigranten nur über begrenztes politisches Wissen verfügt zu haben, denn Nielsen kritisierte das Fehlen einer „Volksabstimmung“ vor dem Anschluss des Sudetenlandes ans Reich (S.90)! Aber gerade das hatte Benesch zur Bedingung gemacht (zuletzt am 12.9.1938), um das völlige Auseinanderbrechen seines Kunststaates zu verhindern. (Bearbeitet von F. Volk)

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