Der politische Gehalt von Stifters Roman Witiko

Sonntag,27.November2011 von

Stifters Roman „Witiko“ handelt im 12. Jahrhundert. Sein Held verbrachte seine Kindheit im südböhmischen Purschitz (nw. von Tabor) und wurde nach dem Tode seines Vaters Wok bei einer Base seiner Mutter in Landshut erzogen. Nun reitet er von Passau nach Südböhmen, um das väterlichen Erbe anzutreten. Bei seiner Ankunft sucht man gerade den Nachfolger für den erkrankten Herzog Sobieslaw I. (†1140). In Frage kommen der Sohn des Erkrankten selbst und dessen Cousin Wladislaw II. (†1174). Witiko ergriff nach gewissenhafter Prüfung Partei für letzteren. Er unterstützte ihn auch militärisch mit einer aus seinen Untertanen geformten kleinen Streitmacht. Bald gewinnt er bei den böhmischen Adligen so großes Ansehen, daß er mit den höchsten Ehrenämtern betraut wird. Mit Kaiser Barbarossa ist er freundschaftlich verbunden und zieht mit ihm zweimal vor die Tore Mailands. Nachdem er einen in Südböhmen und
im Mühlviertel gelegenen größeren Landbesitz übernehmen konnte, findet er sein privates Glück durch die Heirat mit Bertha, der Tochter eines bayrischen Edelmannes.
Auf den ersten Blick scheint „Witiko“ ein historischer Roman zu sein. Manche sehen in ihm auch einen Entwicklungsroman, ähnlich Stifters „Nachsommer“, nur daß der Held seine Erziehung schon hinter sich hat und es nun um seinen Werdegang als Erwachsener geht. Die Aufnahme des Romans beim Publikum war verhalten. Wegen des schwerfälligen Handlungsfortschritts und in Anspielung auf Witikos Lieblingskleidung wurde er als „ledern“ charakterisiert.
Mit dem politischen Gehalt des Buches haben sich anfangs nur wenige befasst. Den wichtigsten Schritt tat 1922 Karl Flöring, ein junger Doktorand in Gießen. Er untersuchte, welche historischen Quellen Stifter benutzte. Stifter selbst erweckte in einem Schreiben an einen Freund den Eindruck, er stütze sich auf Originaldokumente „in wunderlichem Latein“. Flöring wies aber nach, daß er fast nur
gedruckte Geschichtswerke, vornehmlich den ersten Band von Palackys Geschichte Böhmens, benutzte. Ferdinand Seibt ging 1972 aber noch weiter. Ihm genügte die „Positivliste“ Flörings nicht, sondern er untersuchte, welche geschichtlich belegten Ereignisse Stifter ausgelassen oder umgedeutet hat. Dadurch war er in der Lage, die Aussageabsicht Stifters besser zu erkennen. Sie bestand darin, das 12. Jahrhundert als Goldenes Zeitalter Böhmens erscheinen zu lassen, dessen Bewohner in schönster Harmonie zusammenlebten. Darüber hinaus betonte er die vertrauensvolle Zusammenarbeit der böhmischen Herrenschicht mit dem Deutschen Reich unter Konrad III und Friedrich Barbarossa. Die Botschaft sollte also sein: Ein ersprießliches Zusammenleben ist möglich, wenn wir uns nur das 12. Jahrhundert zum Vorbild nehmen. Dies war ohne Zweifel eine politische Botschaft, denn die nationale Rivalität war zu Stifters Lebzeiten bereits voll entbrannt (Königinhofer Handschrift 1817!).
Stifter nahm im Interesse seines Zieles bemerkenswerte Abweichungen vom wahren Verlauf der Geschichte in Kauf. So verkürzte er den Betrachtungszeitraum Palackys von 1138 bis 1184 ausgerechnet um die zehn Jahre in denen der böhmische Herzogthron völlig unharmonisch zehnmal (!) unter grausamsten Begleiterscheinungen den Besitzer wechselte! Beschönigt hat Stifter auch das Verhältnis Böhmens zum Reich. Als Wladislaw II., der nach Stifter rechtmässige Kandidat für das böhmische Herzogsamt, Hilfe aus Deutschland erbat, wurde sie ihm angeblich aus ideellen Gründen gewährt. Nach Palacky jedoch war eine beträchtliche Geldsumme im Spiel. Stifter ging auch von einem tiefen Vertrauen zwischen Barbarossa und Wladislaw II. aus. Palacky sprach aber von einem zweideutigen Verhältnis. Er sah Böhmen im 12. Jahrhundert überhaupt schon in der Krise, die durch den „unheilvollen“ Einfluß Friedrich Barbarossas eher noch verschärft worden sei.

War Adalbert Stifter also nur der erste „Schönredner“ der böhmischen Geschichte, der damit genau so Schiffburch erlitten hat, wie unzählige spätere? Kann man Ferdinand Seibt folgen, der Stifters Witiko-Roman eine „konservative Utopie“ nannte?
Die Antwort gibt Stifter selbst. Er hat sich zwar ein Idealbild der böhmischen Geschichte im 12. Jahrhundert zurechtgezimmert, bewegte sich damit aber im Bereich der künstlerischen Freiheit, zumal er damit niemandem geschadet hat. Für Stifter war aber entscheidend, daß die Bruchlinie niemals entlang der nationalen Unterschiede verlaufen durfte, sondern nur dort, wo Recht und Würde des anderen berührt werden. Das ist die große Idee, die die handelnden Personen in Stifters Roman „Witiko“ verkörpern und die uns diesen so wertvoll machen. Nur wenn sich beide Seiten auf diesen Grundsatz einigen können, werden wir dereinst vielleicht doch die Gefilde der Utopie verlassen. (F.V.)

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