„Der Fragebogen“ von Ernst von Salomon

Montag,27.Oktober2014 von

Als Augenzeuge bei der Sudetendeutschen Heimatfront (SHF)
Der erste Bestseller im Nachkriegsdeutschland war „Der Fragebogen“ von Ernst von Salomon (1902-1972).
Der Verfasser behandelt darin ironisch alle 133 Punkte des von den Alliierten allen Deutschen vorgelegten
Fragebogens über ihre NS-Vergangenheit. Auf den Seiten 172-176 (17. Auflage, 2003) berichtet von
Salomon über eine Versammlung der Sudetendeutschen Heimatfront (SHF) 1933 in Leitmeritz, der er als
Gast beiwohnte. Er schildert die Versammlung aus der Sicht des Jahres 1951, als er den Ausgang der
Geschichte schon kannte. Henlein und seine Mitstreiter mussten sich den Weg in die Zukunft damals erst
ertasten.
Die Schilderung setzt ein, als Ernst von Salomon von den beiden Söhnen Professor Spanns, Raffael und
Adalbert, zu einer Autofahrt nach Leitmeritz eingeladen wurde.
„Selbstverständlich wollte Spann den Anschluss. Und bot sich nicht in seinem System die endliche
Möglichkeit dazu? Es war so vernünftig, es war so organisch, es war der Stein der Weisen, der jedes
Schloss sprengte. Einmal diese Losung in Österreich vorgedacht und vorgetan,
vorgebildet und durchgeführt – und der Anschluss musste kommen, die einzige
Möglichkeit des Anschlusses überhaupt, es war – hoppla – nicht die Möglichkeit des
Anschlusses Österreichs an das Reich, sondern – hoppla – die Möglichkeit des
Anschlusses des Reiches an Österreich!
Im Oktober (1933) fuhren Raffael und Adalbert nach Leitmeritz in Böhmen zu einer
Tagung und da mir freundlich die Gelegenheit zu einer Reise in Gegenden, die ich
noch nicht kannte, geboten wurde, fuhr ich gern mit. Raffael und Adalbert hatten
mit Erfolg gepacklt, in Leitmeritz sollte die sudetendeutsche Front gebildet werden,
– ein Zusammenschluss aller sudetendeutschen Verbände, – Konrad Henlein
erwartete uns. Da stand er, als wir im Wagen ankamen, ein großer, hagerer,
knochiger Mann; ein Mann mit einem etwas hölzernem Gesicht, der mir markig die Hand drückte.
Wie ein Turnlehrer, dachte ich, und wußte derzeit noch gar nicht, daß er wirklich Turnlehrer war.
Wenn ich sagte, daß er ein hölzernes Gesicht hatte, so stimmt das nicht ganz. Es war ein Gesicht, in
dessen hartes Fleisch die angestrengte Tätigkeit des Denkens seine Runen eingegraben hatte. Runen,
das war es, andere Leute bekamen Runzeln, dieser Mann nur Runen im Gesicht, er war wirklich ein
Turnlehrer wie der alte Jahn, er war der Führer der sudetendeutschen Turnverbände. Nun ist Turnen ja
etwas durchaus anderes als Sport. Sport, das ist Leidenschaft, Turnen ist Weltanschauung, die
völkische Metaphysik des Leibes. Wenn die Sudetendeutschen ihre Turnverbände hatten, sozusagen
als eine Leibgarde ihres bedrohten Volkstums, die Tschechen und die Polen hatten ihre Sokoln, noch
aus der Zeit ihres bedrängten Volkstums, und es war ganz genau das gleiche, nur das Völkische war
verschieden. Im Sudetenlande also bildeten die völkischen Turnverbände die eigentliche Streitmacht
der Deutschen gegen die Tschechen; so wie zur Zeit des Habsburger Reiches die tschechischen Sokoln
die eigentliche Streitmacht der Tschechen gegen die Deutschen waren. Auf der Tagung erschienen
auch die mährischen Landstände, saubere, wohlgenährte und behäbige Männer, die etwas darstellten,
Vertreter der Bauernschaften aus dem reichen mährischen Lande, die dort eben die eigentliche
Vormacht der Deutschen bildeten, – Ziel der Tagung sollte sein, die Deutschen aus Böhmen und
Mähren organisatorisch zusammenzuschließen.
Es war dies ein bedeutsamer Zeitpunkt, weil, wie Henlein uns gleich im Verschwörerton mitteilte, die
sudetendeutschen Nationalsozialisten anläßlich eines angeblichen Putschversuches von den
tschechischen Behörden gerade vor wenigen Tagen mit einem Schlage lahmgelegt worden waren, ihre
Heime und Büros ausgehoben und ihre Führer samt und sonders verhaftet. Ich drückte Konrad Henlein
über diesen bedauerlichen Vorfall mit einigen passenden Worten meine Trauer aus, aber Henlein
machte mir, nachdem er eine kleine Überraschung überwunden hatte, mit verschwörerischem
Geflüster klar, daß dies im Gegenteil eine einzigartige Chance sei, denn die sudetendeutschen
Nationalsozialisten hatten sich, da sie ja ihre Weisungen von der Partei im Reich empfingen, einem
anderen Zusammenschluß der Deutschen in Böhmen und Mähren als unter ihrer Führung und im
Rahmen ihrer Organisation ständig widersetzt. <Aha>, sagte ich, und Adalbert und Raffael nickten mir
lächelnd und bedeutungsvoll zu.

Wir gingen zu dem Saale, in welchem sich die Vertreter der Deutschen in Böhmen und Mähren
konstituierend versammeln sollten, es war dies der größte Saal in der Stadt. Auf den Tischen mit den
rotgewürfelten Decken lagen Bierfilze mit den Marken tröstlicher Pilsener Biere, und auf den Stühlen
saßen die Turner in ihren hochgeschlossenen dunkelgrauen Joppen, deren eine auch Konrad Henlein
trug, und die mährischen Bauernvertreter in ihren dunklen Bürgerröcken. Sie sprachen alle nur
flüsternd miteinander, denn auf der Estrade stand ein riesengroßer tschechischer Polizeioffizier,
barhaupt, das merkwürdige runde Gebilde seines Helmes zwischen den Fingern drehend, und schaute
majestätisch in den Saal. Als Henlein an den Vorstandstisch auf der Stirnseite des Saales trat und die
Tagung eröffnete, setzte sich der Polizeioffizier und holte ostentativ ein gewichtiges Notizbuch hervor
und einen Bleistift, an dessen Spitze er beziehungsreich leckte.
Dann stand der Hauptredner der Tagung auf, der Spitzenreferent, Walter Heinrich,
der Petrus unter den Aposteln des Meisters Spann, sein engster Mitarbeiter,
Freund und Vertrauter, blaß, mager, fanatisch, ungeheuer gelehrt und von einer
wilden und tödlichen Intellektualität. Als Heinrich begann, fing ich an, den
Polizeioffizier zu beobachten. Denn Heinrich sprach über Volkswirtschaftslehre,
über ständische Gliederung, Ganzheit und Othmar Spann, es war ein sorgfältig
vorbereitetes Kolleg von der akademischsten Art, und der Polizeioffizier starrte
erst drohend in den Saal, dann an die Decke, dann in seinen Helm, und schließlich
steckte er sein Notizbuch weg, gähnte noch einmal in den vor den Mund
gehaltenen Helm und versank in wilde Träume über die Emotionen seines abendlichen Tarocks. Ich
überlegte mir, was er sich wohl gedacht haben mochte, ob er sich wohl gesagt hatte: <Das ist eine
andere Sorte, die sind nicht so gefährlich wie die Sorte vom „Volkssport-Prozeß“!> – denn unter der
Spitzmarke <Volkssport-Prozeß> segelte das Verfahren gegen die vom Tschechischen Staat so
angenehm vorsorglich ausgebooteten sudetendeutschen Nationalsozialisten, und ich nehme an, daß der
Polizeioffizier Sport für wesentlich gefährlicher erachtete als Turnen, und seinen Polizei-Sport-Verein
für bedeutungsvoller als die tschechischen Sokolnverbände.
Die Sudetendeutschen aber und die deutschen Mähren, sie saßen aufrecht da und starrten auf Walter
Heinrich, und es war totenstill im Saal. Ich fragte mich, was es sein mochte, was diese Männer, diese
guten Männer mit den guten, erwartungsvollen, aufmerksamen und bereiten Gesichtern so bewegte,
daß sie so stillhielten, ich hatte noch nicht genug Phantasie und auch noch nicht genug Erfahrung, um
zu wissen, daß es die Prophetie sein mußte, die ihnen hier geboten wurde unter der trockenen Kruste
der Wissenschaft, die Heilslehre, die da kam wie ein Regen in der Wüste, wie der Regen, nach
welchem der Boden lechzte. Als Heinrich zu Ende war mit seiner Rede, der strohigsten Rede, die ich
je im Seminar gehört, standen die Sudetendeutschen auf und sangen. Der Polizeioffizier schreckte
hoch, aber auch er erhob sich und wartete stehend den Gesang ab. Gesang ist für mich Lyrik mit
Musik und etwas Religion dabei, drei Bereiche, von denen ich ausgeschlossen bin, ich habe kein
Gedächtnis für Gesang, aber ich weiß, daß er sich diesmal zum Schluß mächtig steigerte und daß der
Text eine sehnsüchtige Hoffnung ausdrückte, einen seelischen Aufschrei etwa wie <Wann naht der
Retter diesem Lande?> oder <Wann kommt der Mann, der uns erlöst?> – irgendetwas dergleichen, und
ich sah diese bereiten Augen, diese gespannten, hingegebenen Gesichter, und es war mir beschämend,
dabeizustehen, so ausgeschlossen, so kalt und doch berührt und zu denken: <So ist das nun, da hört ihr
von einer Lehre, und wartet auf einen Mann!> Und dann war alles in einigen Minuten. abgetan.
Henlein sprach für die Turner und ein Vertreter der Landstände sprach für die Mähren, in ein paar
Worten war der organisatorische Zusammenschluß beschlossen und verkündet und durch
Handaufheben der Versammlung bestätigt und der Vorstand war gegründet und Walter Heinrich war
richtig drin, der Vertreter Spanns, gut gepacklt war halb gewonnen, die Söhne Spanns sahen sich einen
Augenblick lächelnd an.
Mein Gedanke aber war: <Ich wußte doch daß die Spanns etwas beabsichtigen mit mir, irgendein
Packl-Geheimnis, zu irgendeinem Zweck war ich mit hierher genommen worden, was wird da
gespielt?> Es schien mir unredlich, mitzuspielen. Ich bin kein Spielverderber, aber hier schien es mir
unredlich, mitzuspielen. Ich wußte, was auch immer von dieser Seite erwartet wurde, nicht von seiten
der Spanns, aber von seiten dieser redlichen, gutgläubigen Sudetendeutschen, – was auch immer von
dieser Seite erwartet werden konnte von mir, ich konnte diese Erwartung nicht erfüllen. Ich war hier

als Privatmann, hinter mir stand nichts, keinerlei Macht, ich war kein Exponent, verdammt noch mal,
ich sprach in keines Namen außer in meinem eigenen, meine Teilnahme an dieser Versammlung war
kein Versprechen, keine Hoffnung konnte von ihr hergeleitet werden. Aber ich war überrumpelt, ich
konnte es hier nicht sagen, ich konnte es technisch nicht, weil die Versammlung zu Ende war, ich
konnte es aber auch nicht, weil ich zuviel zerstört hätte des guten Glaubens, und auch nicht, weil es
nicht begriffen worden wäre, am Ende gar als ein besonders schlauer Trick aufgefaßt worden wäre.
Aber als wir nachher im Hotel in Konrad Henleins Zimmer saßen und der engere Kreis, ohne den
tschechischen Polizeioffizier, sich an die eigentliche organisatorische Vorarbeit machte, sagte ich, was
ich auf dem Herzen hatte. Mir war hundeelend zumute, gerade so, als ob ich nun ein Vertrauen
enttäuschte, wo es doch so war, daß ich in meinem Vertrauen enttäuscht wurde. Und ich erfuhr, daß es
tatsächlich so war; wie ich vermutete, daß meine Teilnahme an der Versammlung so gewertet wurde,
als sei ich eben doch ein geheimer Vertreter der verhinderten Nationalsozialisten; kam ich doch aus
dem Reiche, und im Reiche, es war doch so, hatte sich bislang
überhaupt niemand um die Sudetendeutschen gekümmert, außer eben
den Nationalsozialisten. Die beiden Spanns lächelten unbeteiligt, aber
Henlein war ehrlich bekümmert, daß ich nicht mitspielen wollte.
Tatsächlich war das Konzept Henleins einfacher und wohl auch
redlicher, als ich ursprünglich gedacht hatte. Das Sudetendeutschtum
sollte, wie es die Dinge zu jener Zeit wohl auch verlangten, völkisch so
organisiert werden, daß es imstande war, dem Staatsvolk wirkungsvoll
zu widerstehen und zumindest eine bedeutend stärkere Autonomie zu
erzwingen, als sie vorderhand zugestanden war. Im Falle eines
Anschlusses an das Reich, an welchen praktisch vorläufig noch nicht
gedacht werden konnte, sollte das Sudetendeutschtum sodann bereits so
stark in sich organisiert in Erscheinung treten, daß eine Chance bestand,
sich gegen die politischen Tendenzen des Nationalsozialismus, die
Henlein kannte und fürchtete, durchsetzen zu können. Ich bezweifelte,
ob dies gelingen konnte, aber wirklich lag zu jener Zeit noch alles drin
im Topf, das Feuer unter ihm war schon entzündet, es schmurgelte und
brodelte, aber noch niemand konnte wissen, wie die Suppe schmecken
werde. Es blieb der peinliche Umstand, daß ich selber mißbräuchlich in Dinge hineingezogen worden
war, die mir nicht mitgeteilt wurden, es waren mir schon weitere, hübsche kleine Rollen zugedacht,
aber nun fürchtete ich, wenn ich einmal A gesagt, auch B sagen und das ganze Alphabet
herunterrasseln zu müssen, und dazu war ich nicht imstande.
Wir diskutierten noch lange und erbittert und wir hätten wohl bis zum Morgengrauen debattiert, wenn
nicht plötzlich ein junger Turner hereingestürzt wäre mit dem Ruf: <Polizei kommt! Die Tschechen
sind da!>
Die Polizei war da, die Tschechen waren da. Auf dem Platz vor dem Hotel, auf dem Ring zwischen
den parkenden Wagen blitzten Helme, und schon nahten schwere, eilige Schritte auf dem Gang. <Die
Polizei! Also doch!> sagte Konrad Henlein, und ich verspürte nicht die mindeste Lust, nach so vielen
preußischen nun auch die tschechischen Gefängnisse kennenzulernen, es wirkt dies auf die Dauer
etwas eintönig, – da waren die Polizisten auch schon, da trat der riesige Polizeioffizier triumphierenden
Blickes herein.
<Wem gehört der schwarze Mercedes-Wagen da unten?> fragte er mit heiserer Gespanntheit. <Mir!>
sagte Adalbert Spann erbleichend. Da rief der Polizeioffizier mit donnernder Stimme: <Sie, das kost
fei Strafe! Der Wagen ist falsch geparkt!>

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