Der politische Gehalt von Stifters Roman Witiko

Mittwoch,18.März2015 von

Stifters Roman „Witiko“ handelt im 12. Jahrhundert. Sein Held verbrachte seine Kindheit im südböhmischen Purschitz (nw. von Tabor) und wurde nach dem Tode seines Vaters Wok bei einer Base seiner Mutter in Landshut erzogen. Nun reitet er von Passau nach Südböhmen, um das väterlichen Erbe anzutreten. Bei seiner Ankunft sucht man gerade den Nachfolger für den erkrankten Herzog Sobieslaw I. (†1140). In Frage kommen der Sohn des Erkrankten selbst und dessen Cousin Wladislaw II. (†1174). Witiko ergriff nach gewissenhafter Prüfung Partei für letzteren. Er unterstützte ihn auch militärisch mit einer aus seinen Untertanen geformten kleinen Streitmacht. Bald gewinnt er bei den böhmischen Adligen so großes Ansehen, daß er mit den höchsten Ehrenämtern betraut wird. Mit Kaiser Barbarossa ist er freundschaftlich verbunden und zieht mit ihm zweimal vor die Tore Mailands. Nachdem er einen in Südböhmen und im Mühlviertel gelegenen größeren Landbesitz übernehmen konnte, findet er sein privates Glück durch die Heirat mit Bertha, der Tochter eines bayrischen Edelmannes.

Auf den ersten Blick scheint „Witiko“ ein historischer Roman zu sein. Manche sehen in ihm auch
einen Entwicklungsroman, ähnlich Stifters „Nachsommer“, nur daß der Held seine Erziehung schon
hinter sich hat und es nun um seinen Werdegang als Erwachsener geht. Die Aufnahme des Romans
beim Publikum war verhalten. Wegen des schwerfälligen Handlungsfortschritts und in Anspielung auf
Witikos Lieblingskleidung wurde er als „ledern“ charakterisiert.
Mit dem politischen Gehalt des Buches haben sich anfangs nur wenige befasst. Den wichtigsten
Schritt tat 1922 Karl Flöring, ein junger Doktorand in Gießen. Er untersuchte, welche historischen
Quellen Stifter benutzte. Stifter selbst erweckte in einem Schreiben an einen Freund den Eindruck, er
stütze sich auf Originaldokumente „in wunderlichem Latein“. Flöring wies aber nach, daß er fast nur
gedruckte Geschichtswerke, vornehmlich den ersten Band von Palackys Geschichte
Böhmens, benutzte. Ferdinand Seibt ging 1972 aber noch einen Schritt weiter. Ihm
genügte die „Positivliste“ Flörings nicht, sondern er untersuchte, welche
geschichtlich belegten Ereignisse Stifter ausgelassen oder umgedeutet hat. Dadurch
war er in der Lage, die Aussageabsicht Stifters noch besser zu erkennen. Sie
bestand darin, das 12. Jahrhundert als Goldenes Zeitalter Böhmens erscheinen zu
lassen, dessen Bewohner in schönster Harmonie zusammenlebten. Darüber hinaus
betonte er die vertrauensvolle Zusammenarbeit der böhmischen Herrenschicht mit
dem Deutschen Reich unter Konrad III und Friedrich Barbarossa. Die Botschaft
sollte also sein: Ein ersprießliches Zusammenleben ist möglich, wenn wir uns nur
das 12. Jahrhundert zum Vorbild nehmen. Dies war ohne Zweifel eine politische Botschaft, denn die
nationale Rivalität war zu Stifters Lebzeiten bereits voll entbrannt (Königinhofer Handschrift 1817!).
Stifter nahm im Interesse seines Zieles bemerkenswerte Abweichungen vom wahren Verlauf der
Geschichte in Kauf. So verkürzte er den Betrachtungszeitraum Palackys von 1138 bis 1184
ausgerechnet um die zehn Jahre in denen der böhmische Herzogthron völlig unharmonisch zehnmal (!)
unter grausamsten Begleiterscheinungen den Besitzer wechselte! Beschönigt hat Stifter auch das
Verhältnis Böhmens zum Reich. Als Wladislaw II., der nach Stifter rechtmäßige Kandidat für das
böhmische Herzogsamt, Hilfe aus Deutschland erbat, wurde sie ihm angeblich aus ideellen Gründen
gewährt. Nach Palacky jedoch war eine beträchtliche Geldsumme im Spiel. Stifter ging auch von
einem tiefen Vertrauen zwischen Barbarossa und Wladislaw II. aus. Palacky sprach aber von einem
zweideutigen Verhältnis. Er sah Böhmen im 12. Jahrhundert überhaupt schon in der Krise, die durch
den „unheilvollen“ Einfluß Friedrich Barbarossas eher noch verschärft worden sei.

War Adalbert Stifter also nur der erste „Schönredner“ der böhmischen Geschichte, der damit genau so
Schiffbruch erlitten hat, wie unzählige spätere? Kann man Ferdinand Seibt folgen, der Stifters Witiko-
Roman eine „konservative Utopie“ nannte?
Die Antwort gibt Stifter selbst. Er hat sich zwar ein Idealbild der böhmischen Geschichte im 12.
Jahrhundert zurechtgezimmert, bewegte sich damit aber im Bereich der künstlerischen Freiheit, zumal
er damit niemandem geschadet hat. Für Stifter war aber entscheidend, daß im Konfliktfall die
Bruchlinie niemals entlang der nationalen Unterschiede verlaufen durfte, sondern nur dort, wo Recht
und Würde des anderen berührt werden. Das ist die große Idee, die die handelnden Personen in Stifters
Roman „Witiko“ verkörpern und die uns diesen so wertvoll machen. Nur wenn sich beide Seiten auf
diesen Grundsatz einigen können, werden wir dereinst vielleicht doch die Gefilde der Utopie
verlassen. (Erstabdruck Witikobrief August 2011, Verfasser: F.Volk)

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