Das Münchner Abkommen 1938

Donnerstag,4.Oktober2012 von

Revisionsklauseln:
Sowohl der Versailler Vertrag  als auch der Vertrag von St.Germain enthielten Revisionsklauseln
(Teil 1, Art. 19 bzw. Art. 8 und 19). Sie sahen vor, daß die Rüstungspläne von zehn zu zehn Jahren ggf. berichtigt und unanwendbar gewordene Verträge und solche internationale Verhältnisse, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden  nachgeprüft würden. Da den Tschechen die Brisanz dieser Bestimmungen bewußt war, warnte der csl. Botschafter Stef.Osusky, Paris, schon 1933 (sh. Bild links: in der Mitte Ehepaar Osusky), daß sie unter keinen Umständen angewandt oder auch nur erwähnt werden dürften (Berber, 31.3.1933). Dennoch forderten die Alliierten Hitler schon im April 1938 auf, in der Sudetenfrage Forderungen zu stellen, ”was diesen überraschte” (Taylor, S. 211). Die Revisionsklauseln waren also die Grundlage für das Münchner Abkommen.

Selbstbestimmungsrecht:
Das Selbstbestimmungsrecht war den Sudetendeutschen 1919 vorenthalten worden, obwohl es die Tschechen für die Slowaken und für sich selbst in Anspruch genommen hatten. Für die Annexion des Sudetenlandes wurde ein sog.
(auf die frühe Feudalzeit zurückgehendes) historisches Staatsrecht geltend gemacht, nach dem übrigens die Slowakei an Ungarn hätte fallen müssen.
Alois Rasin, der csl. Finanzminister, sagte:
Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase; nun aber, da die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt. Im Gegensatz dazu stand die KPTsch, deren Sprecher Vaclav Kopecky am 27.3.1931 im Prager Parlament äußerte: Wir tschechischen Kommunisten erklären, daß wir das Selbstbestimmungsrecht bis zur Abtrennung der vom tschechischen Imperialismus unterdrückten Teile des deutschen Volkes bis zur letzten Konsequenz wahren und durchsetzen werden.

Loyalität:
Die Sudetendeutschen wurden gegen ihren ausdrücklichen Willen in den neuen Staat CSR gepreßt. Niemand ist aber verpflichtet, etwas einzuhalten, zu dem er gezwungen wurde. Ein gedeihliches Nebeneinander wäre dennoch möglich gewesen, da beispielsweise die Arbeiterschaft des einst hochindustrialisierten Sudetenlandes für die Idee des Internationalismus sehr aufgeschlossen war. Das beweisen nicht zuletzt die Wahlergebnisse bis 1935, bei denen die aktivistischen Parteien, darunter (ab 1929) die Sozialdemokraten, stets an der Spitze lagen. Angesichts der kulturellen und wirtschaftlichen Unterdrückung schlug der gute Wille ins Gegenteil um. Die Ereignisse von 1938 tragen daher teilweise den Charakter einer verzweifelten “Hungerrevolte”.
Daten zur wirtschaftlichen Not: Das Sudetenland wies unter tschechischer Herrschaft die höchste Selbstmordquote und die höchste Kindersterblichkeit Europas auf. 1936 befanden sich unter 846.000 csl. Arbeitslosen 525.000 Sudetendeutsche, was einer Arbeitslosenquote von 18 % gleichkam gegenüber 3 % bei den Tschechen. Alleine im Staatsdienst wurden den Sudetendeutschen, gemessen am Bevölkerungsschlüssel, 37.000 Stellen vorenthalten. Über das “Kinderelend” z.B. im Erzgebirge berichtete laufend das kommunistische Blatt “Rote Fahne”  (bes. 14.8.1937). Zwei schwedische Journalisten schrieben, es sei unvorstellbar, daß die ganze Welt gemütlich zusieht, wie ein Volk ausstirbt, ohne sich darum zu kümmern (Katzer, S. 357). Nach Vojmir Simonek (Volkszeitung, 10.5.1968, S. 1) lebte das Sudetenland auf der Stufe einer ausgebeuteten Kolonie. Den Sudetendeutschen blieb nicht verborgen, daß sich jenseits der Grenzen ein reichsdeutsches Wirtschaftswunder vollzog, an dem sie teilzuhaben wünschten.

Autonomie:
Henlein und seine Freunde befaßten sich schon lange vor der Parteigründung mit der Autonomiefrage, wie ihre Studienreise 1925 in die Schweiz erweist (Becher, S. 55). In seiner Rede vom 21.10.1934 distanzierte sich Henlein von der NSDAP. Dieser Rede lag ein Beschluß der Parteileitung vom 24.9.1938 zugrunde und war Teil einer Strategie, die die Parteibasis gleich nach der Rede durch verstärkte Schulungstätigkeit auf den Inhalt der Rede einschwören sollte. Wörtlich heißt es in den Protokoll: Endgültiger Bruch mit der großdeutschen Idee. Aufräumen mit dem Gedanken, daß das sudetendeutsche Gebiet von Hitler von Deutschland aus erobert werden könnte. (Kral, 1964, S.71).
Henlein trat für die Autonomie innerhalb der unangetasteten CSR-Grenzen noch in seinem Gespräch mit Lord Runciman am 18.8.1938 ein (Ribbentrop, S. 64). Auch bei Hitler konnte er noch am 2. September 1938 unwidersprochen dafür werben (Groscurth, S. 594). Henlein und seine Gefolgsleute liebäugelten dabei mit der Aussicht, in einem autonomen Sudetenland mit Rückendeckung des Reiches ziemlich unabhängig schalten und walten zu können. Zur Forderung Heim ins Reich kam es erst, als die 1937 propagandistisch sehr gefeierten Februar-Verträge über mehr Arbeitsplätze für Sudetendeutsche wieder nicht eingehalten wurden. Verhängnisvoll war 1937 der Selbstmord des ausgleichsbereiten und einflußreichen Heinz Rutha in tschechischer Haft. Die Haftgründe waren fadenscheinig und waren möglicherweise vom deutschen Geheimdienst lanciert. In Henleins Umgebung verschoben sich nun die Gewichte zu den radikaleren Kräfte, die eine Lösung nur noch „vom Reich“ her für möglich hielten. Noch in seinem Abschiedsbrief an die Partei mahnte Rutha: Wirkt für das Zusammenleben der Völker in unserem Land(Becher, S. 85).

„Oberschwätzer“ Benesch:
Das internationale Ansehen Beneschs war seit 1919 stark gesunken.
Der britischen Diplomatie war schon in den Zwanziger Jahren Beneschs rechthaberisches und kleinliches Wesen aufgefallen. Er galt ihnen als champion talker (Oberschwätzer),  most overrated man of his days und skilful intriguer (Reiner Franke, S. 223 ff.). Parallel dazu erschienen die Bücher Harold Nicolsons (Peacemaking 1919) und Lloyd Georges (Die Wahrheit über die Friedensverträge), die einige der tschechischen Fälschungen in Versailles aufdeckten. Besonderes Aufsehen erregte 1935 die Enthüllung Hunter Millers, daß in der CSR  das 1919 vor der “Kommission für die Neustaaten” gegebenes Versprechen, eine “zweite Schweiz” zu errichten, immer noch der Zensur unterlag (“Diary”, Band XIII; sh. auch Prinz, S. 96 f.). Benesch erregte 1935 mit dem Vertrag mit der Sowjetunion großes Mißtrauen der Westmächte, denn er sah eine starke militärische und kulturelle Bindung an die Sowjetunion vor. Als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, wollte man einen zweiten kommunistischen Staat in Europa nicht hinnehmen (Vietz, passsim). Unter diesen Umständen sind die unbezweifelbaren späteren diplomatischen Erfolge Beneschs erstaunlich. Fatal wäre es freilich, wenn sie, wie manche Autoren mutmaßen (z.B. Charmley, S. 314), mit Churchills 1938 drohender privater Insolvenz zusammenhingen, die Benesch im Verein mit dem mährischen Juden Strakosch abzuwenden in der Lage war.

Benesch „brauchte den Krieg“:
Nachdem sich spätestens 1935 die ursprüngliche tsl. Staatskonzeption einer Assimilierung der Sudetendeutschen als illusorisch erwiesen hatte, zählte zu den Optionen Beneschs auch ein großer Krieg, denn ein Weltkrieg war, wie das Foreign Office im März 1938 intern feststellte, seine einzige Hoffnung auf die tschechische Vorherrschaft (Franke, S. 501). 
In diesem Lichte ist schon 1936 Beneschs Versuch zu sehen, Frankreich für eine militärische Aktion gegen die Besetzung des Rheinlandes zu gewinnen. Aber auch die Teilmobilmachung der CSR am 20. Mai 1938 hatte darin ihre Ursache. Stichwortgeber war diesmal Churchill, der die Wahrscheinlichkeit militärischer Maßnahmen Deutschlands nur bei 1:50 sah und deshalb Benesch am 12.April 1938 riet, selbst einen Krieg mit Deutschland “hervorzurufen” (Kral, 1968, S. 117).  Im Londoner Exil gab Benesch im Gespräch mit seinem Mitarbeiter Jar. Smutny (im Bild rechts neben Benesch) zu: Wir brauchten den Krieg und ich tat in diesem Sinne alles, damit es ja zum Krieg kommt. Benesch lehnte daher auch die 1937 von Deutschland unterbreiteten Vertragsangebote zur Behebung der Spannungen ab, obwohl sie, wie Benesch zugab, sicherlich sehr ernst gemeint waren (DHCP, Nr. 433, 30.12.1940). Auch Polen zeigte diesen Mangel an Verständigungsbereitschaft, weil es sich von einem Krieg eine endgültige und womöglich noch vorteilhaftere Grenzregelung im Westen erhoffte. Vansittart machte sich in seinen Memoiren darüber lustig, daß Pilsudski zweimal jährlich in Paris um Rückendeckung für weitere Landnahmen in Polens Westen einkam.

Der Necas-Brief:
Schon 1919 hatte Josef L. Stehule (S. 546) die Aussiedlung der Sudetendeutschen in Erwägung gezogen: “…bevor Deutschland sich seiner besinnt, wird das ganze böhmische Gebiet ohne jede Gewalt tschechisiert sein…. Wenn dieser Prozeß nicht schnell genug von statten geht, schreiten wir zur Aussiedlung des deutschen Elements…”. Zu dieser Variante griff Benesch in seinem sog. Necas-Geheimbrief an die Westalliierten vom 15. September 1938.  Er bot darin an, Teile des Sudetenlandes an Deutschland abzutreten und dazu etwa 1,5 bis 2 Millionen Sudetendeutsche ins Reich zu überführen. Hitler sei notfalls zur Annahme dieses Planes zu  zwingen.  Dieser Brief ermutigte die Westalliierten, am 19. September 1938 von Prag ultimativ die  Abtretung der sudetendeutschen Gebiete zu verlangen.

Der  Brief war zwar von Benesch verfaßt, ging aber in die Geschichtsschreibung unter dem Namen seines Überbringers, des damaligen Sozialministers Dr. Jaromir Necas (sh. Bild links), ein. Das war ganz im Sinne Beneschs, der die Brisanz seines Schreibens ahnte und auf äußerste Geheimhaltung drang. Sogar sein eigener Botschafter in Paris, Stefan Osusky, erfuhr von dem Brief erst durch den französischen Außenminister, als er bei diesem vehement gegen die geplante Abtrennung des Sudetenlandes protestierte.  Während des Londoner Exils bedrängte Benesch seinen früheren Minister und Briefboten Necas,  das Schreiben als seine private politische Aktion auszugeben. Necas lehnte aber ab und starb verbittert kurz vor Kriegsende in London. Sein Testament bestimmte, daß an seinem Grabe nur drei Tschechen zu dulden seien (Vgl. Herget, Edvard Benes: Eine Nachbetrachtung, Sudetendeutsche.Zeitung 17. 6. 1994). Die Geheimhaltung des Necasbriefes vor dem eigenen Volke gelang bis 1957. Dann lancierten ihn die Kommunisten, um Benesch als „bürgerlich“ zu desavouieren. Die Sowjets allerdings kannten Beneschs Doppelspiel und nutzen ihr Wissen gnadenlos aus. Für Osusky war Benesch daher bis 1948 kein freier Mann mehr.

Die Rolle der Sudetendeutschen Sozialdemokraten:
Wie Dr. Hodza 1942 in seinem in London erschienenen Buch „Federation in Central Europe“ mitteilt, bot er Henlein Ende 1937 Gemeindewahlen an. Nach Einschätzung Wenzel Jakschs (Kern, S. 255 -257) hätte das die Auslieferung der ganzen Selbstverwaltung in unseren Grenzgebieten bedeutet. Jaksch nimmt für seine Partei in Anspruch, im Mai 1938 praktisch alleine in den Gemeindewahlkampf  gegangen zu sein und damit verhindert zu haben, daß die internationale Propagandaschlacht um das Schicksal der CSR schon im Frühjahr verloren gegangen sei. Es hätte dann keine Runciman-Mission und keinen Spruch von München mehr gegeben. Selbst die heroische Geste der Generalmobilmachung am 23. September 1938 wäre der CSR nicht mehr möglich gewesen.  Die sudetendeutsche Sozialdemokratie habe das Sudetengebiet noch politisch gehalten, als es von der csl. Staatsbürokratie bereits faktisch preisgegeben war.

Das Ultimatum vom 19. 9. 1938:
Briten und Franzosen verlangten am 19. 9. 1938 von Prag ultimativ die Abtretung des Sudetenlandes, was im Widerspruch zu den Ansichten der deutschen Reichsregierung stand und mit dieser nicht abgesprochen war. Die beiden Westalliierten stützten sich dabei auf die schon oben erwähnten Vorschläge Beneschs vom 15. 9. 1938 selbst. Lord Runciman bestätigte in seinem Gutachen die Beschwerden der Sudetendeutschen und forderte sofortige Überführung des Sudetenlandes ins Reich.
In der Nacht zum 20.September 1938 machte Ministerpräsident Dr. Hozda im Einvernehmen mit Benesch dem französischen Gesandten de Lacroix klar, daß die CSR- Regierung vor dem eigenen Volke unbedingt den Eindruck des Kapitulantentums vermeiden müsse und die Abtretungspläne nur nach scheinbar ultimativem Druck seiner Verbündeten annehmen könne. Benesch hatte das Ultimatum also selbst “bestellt”. Später pries er das Münchner Abkommen als seine größte diplomatische Leistung, denn er konnte sich als Opfer einer Erpressung ausgeben und hatte eine allgemeine Volksabstimmung vermieden, die auch den Slowaken und Ruthenen die Möglichkeit gegeben hätte, sich schon damals von der CSR loszusagen. Beneschs Doppelspiel veranlaßte Stefan Osusky, gegen den Staatspräsidenten einen Hochverratsprozeß zu verlangen (Herget, Sudetendeutsche Zeitung, 17.6.1994)

Das Münchner Abkommen:
In München wurden nur noch die Durchführungsbestimmungen für das Abkommen, das hinsichtlich der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete bereits grundsätzlich erzielt wurde, beschlossen. Es gab also einen Vorvertrag über die Abtretung des Sudetenlandes, und zwar aufgrund des Notenwechsels vom 19./20. September 1938 zwischen der CSR einerseits und Frankreich und Großbritannien andrerseits. Deutschland war daran nicht beteiligt, was auch korrekt war, denn Deutschland war 1919 ja auch nicht an der Übertragung des Sudetenlandes an die CSR beteiligt gewesen. Benesch setzte 1938 aber durch, daß die von Hitler gewünschte Volksabstimmung für alle Volksgruppen der CSR unterblieb, denn er wußte genau, daß sich auch die Slowakei schon damals von den Tschechen gelöst hätte.
Insofern entspricht die Klage, daß die Verhandlungen ohne tschechische Beteiligung stattgefunden hätten, nur bedingt den Tatsachen. Wahr ist aber, daß Chamberlains Wohlwollen für die Tschechen sank, nachdem er während der Verhandlungen von seinem telefonischen Abhördienst erfahren hatte, daß Benesch und Jan Masaryk an seimem Sturz zugunsten Churchills arbeiteten (Meiser, S. 307).

Als die französischen und britischen Staatsmänner aus München heimkehrten, wurden sie von den Menschenmengen mit Begeisterungsstürmen empfangen. Mitglieder des Pariser Stadtrates beantragten, einige Straßen nach Daladier und Chamberlain zu benennen. Die Zeitschrift „Petit Parisien“ legte ein Goldenes Buch aus, in das sich jeder eintragen konnte, der das Münchener Abkommen begrüßte. Bald hatte eine Million Franzosen davon Gebrauch gemacht. Vielen Briten galt das Münchner Abkommen als ein Triumph der Sittlichkeit (Taylor, S.262). In Opposition stand nur die Gruppe um Churchill, die im Mai 1940 Chamberlain aus dem Regierungsamt drängte und am 5. August 1942 erklärte, sich nicht mehr an das Münchener Abkommen gebunden zu fühlen. Die CSR begab sich mit ihrer Forderung nach Ungültigkeit ex tunc in ein Dilemma, denn ohne das Münchner Abkommen wären die Sudetendeutschen tschechoslowakische Staatsbürger geblieben, deren Ausweisung die Verfassung verboten hätte. Immerhin scheint die Prager Regierung zwischen 1950 und 1966 von der Gültigkeit des Münchener Abkommens ausgegangen zu sein, denn während dieser sechzehn Jahre ließ sie ihren Staatsgründungstag nicht mehr am 28. Oktober (1918), sondern am 9. Mai (1945) feiern.

Angebliche Vertreibung von Tschechen:
Die Behauptung, Tschechen seien 1938 aus dem Sudetenland vertrieben worden, zeugt von einem Mangel an Aufrichtigkeit. Es galt der in § 7 des Münchner Abkommens vorgesehene Optionsvertrag vom 20.11.1938, der dazu führte, daß nach dem Anschluß 40.000 Tschechen mehr im Sudetenland lebten als 1918 (zusammen 319.000, sh. Habel, Legende, S. 83 f.). Das Sudetenland verließen vor allem tschechische Staatsbeamte und Soldaten, die aufgrund einer verfehlten Siedlungspolitik in die Grenzgebiete entsandt worden waren.
Zwang wurde auf sie nicht ausgeübt (F. Seibt, S. 271). Viele gingen vermutlich gerne zurück, wie die tschechische Lehrerflucht der vorangegangenen Jahre vermuten läßt. So hatten schon 1936 nicht weniger als 1.634 tschechische Pädagoginnen und Pädagogen ihre Rückversetzung ins Landesinnere beantragt, während sich gleichzeitig für die 105 offenen Stellen an tschechischen Diaspora-Schulen kein einziger Bewerber fand! (Narodni Listy, zit. nach Dorfbote 24.1.1937). An der Volksabstimmung vom 4. Dezember 1938 beteiligten sich auch die im Sudetenland verbliebenen Tschechen auf  besonderen Wahlzetteln. Ihr Votum ergab 118.206 Stimmen für und 24.455 gegen den Anschluß (Bundesarchiv Koblenz, R43 II/1368, sh. Habel, S. 437, Anm.5). Als stolzer Ruhmestitel für die Sudetendeutschen bleibt, daß sie sich 1938 jeder Rache an den verbliebenen Tschechen für vorher erlittene Demütigungen enthielten. Die Reichsregierung gewährte letzteren sogar eine Amnestie für politisch motivierte Straftaten, sofern sie nicht Raub oder Mord betrafen (Habel, Dokumente, S. 441). Die soziale Stellung der im Sudetenland verbliebenen Tschechen wird als relativ nicht schlecht bezeichnet. Sie erhielten die gleichen Löhne wie die Deutschen und standen sich wirtschaftlich mitunter sogar etwas besser, da sie keine Beiträge zur NSDAP entrichteten (Jaroslav Joza, Dejiny a soucasnot, 11/1966).

Die Stimme Emanuel Radls (1873-1942)
Radl (Bild unten!) war tschechischer Philiosophieprofessor und schrieb schon 1924 (S. 173 f.): Die Anerkennung des neuen Staates wurde den Deutschen nicht leicht gemacht. […] Die herrschende Theorie lehrt, daß der Sinn des Tschechentums im Kampf gegen das Deutschtum liegt, und tatsächlich ist die Politik unserer Republik nach dem Weltkrieg zum großen Teil ein Krieg des Staates gegen die inländische deutsche Bevölkerung. Wie konnten die Deutschen unter diesen Umständen den Staat anerkennen? Insbesondere erschwert noch die politische Praxis im kleinen den Deutschen  (und den Ungarn) die Eingliederung in das staatliche Leben. Sie werden im allgemeinen als ein unerwünschtes, verdächtiges, gefährliches, fremdes Element angesehen; der Kampf gegen sie wird als Verdienst um den Staat aufgefaßt. Obgleich es hinreichend klar war, daß den  Deutschen Unrecht getan wurde, hat die Regierung nicht ein einziges Mal die deutschfeindliche Agitation verurteilt; die Gesetze über den Minderheitenschutz werden als Gesetze über den Schutz des Staates gegen die Deutschen ausgelegt.

Fazit:
Die CSR hatte sich im Vertrag von St. Germain zur gerechten Behandlung der “eingeborenen Bevölkerung verpflichtet (Art. 23), diese Zusage aber nicht eingehalten. Daher war eine Überprüfung nach § 19 des Versailler Vertrages gerechtfertigt. Die Sudetendeutschen hätten schon die Gewährung wirklicher Autonomierechte als großen Erfolg empfunden. Briten und Franzosen forderten von Prag aber mehr, nämlich die Abtretung der Sudetengebiete. Dies stand eigentlich im Widerspruch zu den Forderungen der deutschen Seite und geschah ohne Absprache mit dieser. Es ist daher unseriös, die Sudetendeutschen als Zerstörer der Ersten Republik anzuprangern.

 

Auszug aus der Literaturliste:
Becher, Walter, Zeitzeuge, München 1990; Berber, Friedrich, Europäische Politik1933-1938 im Spiegel Prager Akten, Essen 1942; Dokumenty z historie ceskoslovenske politiky, 2 Bd., 1939-43  (DHCP), Prag 1966; Fest, J., Spiel mit hohem Einsatz, VfZ. 46/1998; Frank, Ernst, Autonomie oder Anschluß?  in: Sudetendeutscher Turnerbrief, 1980/2; Franke, Rainer, London und Prag, München 1981;  Groscurth, Helmuth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940; Habel, Fritz-Peter, Eine politische Legende; ders., Dokumente zur Sudetenfrage, 2003; Jaksch, W., Europas Weg nach Potsdam, 1958; Katzer, Franz, Das große Ringen, 2003; Kern, Erich, Verheimlichte Dokumente, München; Kral, Vaclav, Das Abkommen von München 1938, Prag 1968; ders., Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933-47, Dokumentensammlung, Prag 1964;  Meiser, Hans, Tschechen als Kriegstreiber, Tübingen 2011; Lamatsch, Paul, Prager Tragödie, München 1964; Prinz, Friedrich, Benesch und die Sudetendeutschen, in: Beiträge zum Deutsch-Tschechischen Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert, Collegium Carolinum, 1967, S. 93-110; Radl, Emanuel, Der Kampf zwischen den Tschechen und den Deutschen, 1924, deutsche Übersetzung Reichenberg 1928; Ribbentrop, Anneliese von, Deutsch-englische Geheimverbindungen, Wuppertal 1967; Seibt, Ferdinand, Deutschland und die Tschechen; Stehule, Josef L., Ceskoslovensy stat v mezinarodnim pravu a styku, 1919, abgedruckt in: Odsun, S. 536 ff., 2000; Taylor, A.J.P.,  Die Ursprünge des zweiten Weltkriegs, Gütersloh 1962; Vietz, Karl, Verrat an Europa, 1938.

 

P.S.: Chamberlain verfolgte auch im Herbst 1939 die Strategie der Zuspitzung. Als der von den Verschwörern versprochene Putsch aber trotz des Krieges in Polen ausblieb, strebte er den friedlichen Ausgleich mit Hitler an, was ihm aber die inzwischen erstarkte Kriegspartei Englands nicht mehr erlaubte.